top of page

Abschied vom Perfektionismus

  • carolineschroeder2
  • 26. Nov. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

psychotherapiejetzt - Praxis für Psychotherapie Caroline Schröder

Serie Lieblingsthemen in der Psychotherapie


So herrlich unperfekt ...


ree

Dieses Bild habe ich gewählt, weil es so herrlich unperfekt ist. Kann man erkennen, was es ist?

Gefallen hat mir diese Aussicht aus dem warmen Auto, wegen der Farbe Rot und der Spielgungen. Die rote Ampel und die Schranken die uns hier vor dem gefährlich schnell herannahenden Zug schützt, möchte ich gerne zwischen Ihnen und Ihrem Perfektionismus aufstellen!


Den Sieg über den Perfektionismus erringen

Eine kluge Kollegin, bei der ich in einer Fortbildung zu Essstörungen war, hat den Spruch geprägt: "Wir müssen den Endsieg über den Perfektionismus erringen". Obwohl mir damals - und heute noch viel weniger - diese martialische Formulierung nicht gefallen hat, stimme ich der Kollegin inhaltlich voll zu. Sie hat beschrieben, dass in Ihrer Arbeit mit Menschen mit Essstörungen ein Treiber der Störung der Perfektionismus ist.


Kann man Perfektion erreichen?

Wie ist das mit dem "perfekt sein wollen" oder "etwas perfekt machen wollen"? Können wir das erreichen?

Ich hoffe der vernünftige und realistische Anteil in Ihnen hat jetzt ein selbstverständliches "Nein, das geht nicht" gemurmelt.

Und doch versuchen wir es immer wieder.

Was dann perfekt wäre, ist zudem auch noch hoch subjetiv. Eine perfekt gestylte und geschminkte Frau könnte vielen gefallen ... aber manch ein Betrachter könnte auch denken, dass die Aufmachung zu kalt und künstlich ist.

Da fängt es also schon an. Es kann nie für alle das gleiche perfekt sein. Wir sind so unterschiedlich.

Dann könnte man einwerfen - es muss ja nur für mich perfekt sein. Ich muss damit zufrieden sein! Gut - wenn Sie das erreichen, dann ist es gut.

Sie schminken und stylen sich .... und denken dann "Wow, das hab ich perfekt hingekriegt!". Super, dann ist auch die Therapeutin zufrieden.


Perfektionismus ist Selbstfolter

Bloß ... der Perfektionismus hat so die Eigenart, dass das Erreichen der Perfektion und das Ankommen in der Zufriedenheit mit sehr, sehr viel Aufwand verbunden ist. Oder sogar unmöglich.

Perfektionismus ist Selbstfolter!

Leider weiß ich nicht mehr, welcher Kollegin ich diesen klugen Satz verdanke. Ich weiß aber sehr genau, dass dieser Satz viel Wahrheit beinhaltet.

Etwas fast perfekt zu machen kostet viel Zeit, Kraft und Nerven.

Es gibt einen "Trade off": entweder ich komme schnell zum Ziel und nehme dabei in Kauf, dass es etwas schlechtere Qualität ist. Oder ich brauche viel Zeit, kann dann aber sehr genau arbeiten. Also entweder schnell, oder genau. Das eine schließt das andere in der Regel aus.

Beim Perfektionismus geht die Zeit, die wir brauchen, um das perfekte Ergebnis zu erreichen, schnell ins Unendliche ... und das ist der erste Teil der Selbstfolter.

Und um bei meinem Beispiel mit dem perfekten Styling und Schminken zu bleiben: nach dem ersten Apperitiv, dem zweiten Windstoß oder dem ersten Naseputzen ist der Perfekte Look möglicherweise schon zum Teufel.

Außerdem geht der Perfektionismus mit viel Selbstkritik, Unzufriedenheit und einer Mangelerfahrung einher. Es ist immer noch nicht gut genug. Dahinter verbirgt sich: es ist nie genug.

Also - unendlicher Aufwand und dann ist es auch noch nie genug! Das ist Selbstfolter.


Perfektionismus und Selbstwert

Perfektionismus ist Selbstwert schädigend. Vor allem die darin liegende Mangelerfahrung schädigt unseren Selbstwert. Der Selbstwert ist unsere tägliche Selbstbewertung! Wenn ich, gemessen an meinen perfektionistischen Ansprüchen, nie zu einer positiven Selbstbewertung

(z. B. "ich bin perfekt gestylt") komme, dann nimmt mein Selbstwert dauernd Schaden.


Der Abschied vom Perfektionismus braucht Übung

Beim Abschied vom Perfektionismus schlage ich kleine Übungen vor. Ein Patient hat das wunderschön beschrieben: er hat mit seinem Sohn die Garage geputzt. Sie waren dabei alles wieder an seinen Platz zu räumen, als er in der Ecke für die Autoreifen noch einen kleinen Staubhügel gesehen hat. Früher hätte er seinen Sohn angewiesen, den Staub noch weg zu kehren. Als Abschied vom Perfektionismus hat er beschlossen, hier alle Fünfe gerade sein zu lassen und hat mit seinem Sohn gemeinsam die Autoreifen in diese Ecke geräumt.

Solche kleinen Übungen gibt es in jedem Alltag.


Scheiter heiter!

Ich habe in einem alten Haus von 1885 Vorhangstangen aufgehängt. Als die erste oben war .... völlig krumm und schief. Ich hatte die Stange am Fenstersturz orientiert. Der war aber nicht waagerecht. Früher hätte ich die Stange nochmal abgehängt und neu mit der Wasserwaage angebracht. Hier habe ich beschlossen einen Abschied vom Perfektionismus zu feiern. Mir war klar ... nach 3 Woche interessiert mich das sowieso nicht mehr. Und so war es auch. Die anderen Vorhangstangen sind im Wasser. Die eine Stange hängt schief. Das hat mir fast 3 Wochen Kopfzerbrechen bereitet. Seitdem ist es völlig unwichtig.


ree

Beim Abschied vom Perfektionismus braucht es Übung. Je häufiger, desto leichter fällt es einem. Und Sie dürfen jeweils auswählen, was Ihnen wichtig ist. Vielleicht gibt es einen Bereich, der für Sie wirklich wichtig ist. Da dürfen Sie ganz genau vorgehen und mit viel Muße ein fast perfektes Ergebnis ansteuern. Wie eine Patientin das für sich entschieden hat: an Weihnachten nimmt Sie sich viel Zeit um alle Geschenke aufwändig mit verschiedenem Papier, Geschenkbändern und Anhängern zu dekorieren. Den Rest des Jahres ist ihr Perfektionismus im Ruhestand.

psychotherapiejetzt - Praxis für Psychotherapie Caroline Schröder @ 2024






 
 
 

Kommentare


bottom of page